Chlor(at) zur Nahrungsergänzung?

Ein Bericht aus unserem Laboralltag

Bauer-Aymanns, Dr. Lerch, Dr. I. Ruge

 

Dem CVUA Karlsruhe und dem CVUA Stuttgart wurden in den Jahren 2014 und 2015 mehrere Proben eines aus den USA stammenden, als Nahrungsergänzungsmittel bezeichneten Erzeugnisses zur Untersuchung vorgelegt, die neben erheblichen Mengen an Chlor und Verunreinigungen mit Trihalogenmethanen auch hohe Chlorat- und Perchloratgehalte aufwiesen. Laut Zutatenliste sollten lediglich Wasser und Natriumchlorid (Kochsalz) enthalten sein. Die Proben wurden als inakzeptabel für den Verzehr durch den Menschen beurteilt.

Inzwischen liegt eine Stellungnahme des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) vor, in der das Erzeugnis aufgrund der hohen Gehalte an Chlorat- und Perchlorat sogar als gesundheitsschädlich eingestuft wird [3]. Zudem waren die gesundheitlichen Wirkversprechen zur „Redoxwirkung“ in hohem Maße irreführend. Auch ist die Bezeichnung „Nahrungsergänzungsmittel“ nicht berechtigt.

 

Wundersame Wirkung von „Redox-Signal-Molekülen (ROS)“

Das in Liter-Flaschen abgefüllte Erzeugnis wird über das Internet vertrieben. Laut Bewerbung soll es aus „Billionen von perfekt ausgewogenen Redox-Signalmolekülen (sog. „ROS“) bestehen, die in einer „makellos reinen“ Salzlösung schweben“. Es wurde u.a. auch behauptet, dass die „ROS“-Moleküle die sportliche Leitungsfähigkeit erheblich steigern sowie den Menschen widerstandsfähig gegen Krankheiten und vorzeitige Alterung machen könnten. Es soll sich zudem um „eines der gefahrlosesten Produkte auf dem Planeten“ handeln.
Für alle diese Wirkungsbehauptungen gibt es keine seriösen wissenschaftlichen Belege.

 

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„ROS“-Moleküle – engl. „reactive oxygen species“

„Reaktive Sauerstoffspezies“ werden auch oft ungenau als „Sauerstoffradikale“ oder „Freie Radikale“ bezeichnet.
In der Internetwerbung des untersuchten Produktes wird die Wirkung dieser Moleküle positiv dargestellt!
ROS-Moleküle werden durch normale zelluläre Reaktionen in sauerstoffverarbeitenden Organismen gebildet und sind aufgrund ihrer oxidativen Wirkung aber zellschädigend.
Weitere Informationen dazu in Wikipedia.

Aufgrund dieser Erkenntnis hat sich in den letzten Jahren der Trend zur Verwendung von antioxidativen Wirkstoffen in Nahrungsergänzungsmitteln stark verbreitet, da es als ernährungsphysiologisch vorteilhaft gilt, Zellen vor oxidativem Stress zu schützen.

 

Gehalt an Chlor und Trihalogenmethanen (THM)

Bereits bei der sensorischen Prüfung fiel bei den Proben ein unangenehmer Geruch und Geschmack nach Chlor auf. Der pH-Wert war nahezu neutral.
Die chemische Analyse ergab einen Gehalt an freiem Chlor von bis zu 16 mg Chlor/l – nach der Aufbereitung von Trinkwasser mit Chlor darf dieser Wert aber nur max. 0,3 mg freies Chlor/l betragen.
Überdies hatte das enthaltene Chlor mit den im Wasser befindlichen organischen Verunreinigungen reagiert und Trihalogenmethane (THM), überwiegend Chloroform, gebildet. Mit Werten bis zu 424 µg THM/l überschritten die Proben den für Trinkwasser erlaubten Wert von 50 µg THM/l um ein Vielfaches.

 

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Chlor

Elementares Chlor (Cl2) wird in vielfältiger Weise zur Reinigung und Desinfektion eingesetzt, um Krankheitskeime unschädlich zu machen. Es ist eine äußerst reaktive Verbindung - seine Toxizität beruht auf der zerstörenden, stark oxidierenden Wirkung auf organisches Gewebe.

 

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Trihalogenmethane (THM)

Chlor reagiert mit in Wasser natürlicherweise vorhandenen organischen Bestandteilen zu unerwünschten Nebenreaktionsprodukten, z.B. bei der Desinfektion von Trinkwasser oder der Wasseraufbereitung im Schwimmbad. Für die Gesundheit sind besonders die Trihalogenmethane (THM) von Bedeutung, denn sie stehen in begründetem Verdacht, ein krebserzeugendes Potential zu besitzen; ihr Gehalt ist deshalb reglementiert und wird überwacht.

 

Für Lebensmittel unübliches Herstellungsverfahren

Das Erzeugnis wird wahrscheinlich durch Elektrolyse einer wässrigen kochsalzhaltigen Lösung hergestellt (s. Schema). Im Anodenraum verbleibt dabei eine stark chlorhaltige Salzlösung, die mit THM verunreinigt ist. Der Chlorgehalt wird dem Verbraucher verschwiegen, obwohl die im Internet beworbene „Redoxwirkung“ von „ROS-Molekülen“ wohl Chlor und seinen Reaktionsprodukten zuzuschreiben ist.

 

Abbildung: Chloralkali-Elektrolyse.

Abbildung: Chloralkali-Elektrolyse. Quelle: ChemgaPedia, Online-Lerneinheit zu technischen Elektrolyseverfahren, Autoren: Prof. Dr. Volker Schubert und Prof. Dr. Gernot Reininger. Abgerufen am 02.02.2015. Copyright Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reproduced with permission.

 

Gehalt an Chlorat und Perchlorat

Bei der Prüfung auf weitere Chlorverbindungen wurden hohe Werte an stark oxidativ wirkendem Chlorat sowie an Perchlorat festgestellt (19,5 mg/l bzw. 0,36 mg/l).

 

Die Kontamination von pflanzlichen Lebensmitteln mit Chlorat und Perchlorat ist seit einigen Jahren ein bedeutendes Thema in der Lebensmittelüberwachung. Das CVUA Stuttgart hat dazu bereits mehrere Internetbeiträge veröffentlicht, z.B.:

 

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Chlorat

Strukturformel Chlorat.

Chlorate sind Salze der Chlorsäure. Sie sind starke Oxidationsmittel und werden z.B. zum Bleichen von Papier verwendet.
Bei der Desinfektion von Trinkwasser/Brauchwasser mit Chlor entsteht Chlorat als Nebenprodukt, ebenso bei der Verwendung von Chlorbleichlauge (Natriumhypochlorit-Lösung). Auch bei der Verwendung von Chlordioxid zur Desinfektion von Trinkwasser/Brauchwasser können Chlorate entstehen.

 

Perchlorat

Strukturformel Perchlorat.

Perchlorate sind Salze der Perchlorsäure. Sie sind in Wasser meist leicht löslich und in der Umwelt persistent (dauerhaft verbleibend). In der Umwelt kommen diese sowohl anthropogen, d.h. durch den Menschen verursacht, als auch natürlich in Minerallagerstätten vor.
Die Aufnahme von Perchlorat kann zu einer reversiblen Hemmung der Jodidaufnahme in die Schilddrüse führen.

 

Rechtlicher Hintergrund und toxikologische Bewertung zu Chlorat und Perchlorat

Chlorat

Für Chlorat sind bisher keine spezifischen Höchstgehalte in Lebensmitteln, auch nicht für Trinkwasser festgelegt.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt in einer Stellungnahme lediglich für Lebensmittel, wie z.B. Obst und Gemüse, die von der Weltgesundheitsorganisation für Chlorat abgeleitete akzeptable Tagesdosis (ADI) von 0,01 mg/kg Körpergewicht als vorläufige Basis sowohl für die chronische als auch für die akute Risikobewertung (= akute Referenzdosis, ARfD) von Chlorat zu verwenden [1]. Die europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) hat am 24.06.2015 eine Risikobewertung zu Chlorat in Lebensmitteln veröffentlicht. Hierbei legt die EFSA eine tolerierbare Tagesdosis (TDI vergleichbar ADI) von nur 0,003 mg/kg Körpergewicht und eine akute Referenzdosis (ARfD) von 0,036 mg/kg Körpergewicht fest [4].
Auf dem Etikett wird für das untersuchte Produkt eine tägliche Verzehrsmenge von 118 ml empfohlen.
Daraus errechnet sich, dass der ADI von 0,01 mg/kg Körpergewicht für Chlorat um das Dreifache überschritten wird (bezogen auf einen 70 kg schweren Erwachsenen). Der von der EFSA festgesetzte TDI von 0,003 mg/kg Körpergewicht wird bei dieser Verzehrsmenge sogar um das Elffache überschritten.
Aufgrund der verharmlosenden Bewerbung im Internet ist es lebensnah anzunehmen, dass auch größere Mengen getrunken werden.

 

Perchlorat

Perchlorate sind in der EU als Lebensmittelzusatz nicht zugelassen. Gesetzliche Höchstgehalte in Lebensmitteln gibt es derzeit noch nicht [2]. Perchloratbefunde fallen deshalb unter die Regelungen der Kontaminanten-Verordnung, die zum vorbeugenden Schutz des Verbrauchers ein allgemeines Minimierungsgebot für Fremdstoffe in Lebensmitteln enthält. Für Perchlorat wird von der EFSA aufgrund der höheren Toxizität gegenüber Chlorat sogar ein noch niedrigerer TDI-Wert von nur 0,0003 mg/kg Körpergewicht abgeleitet. Aufgrund des gegenüber Chlorat geringeren Rückstandsgehalts an Perchlorat im Produkt, ergibt sich bei einer täglichen Verzehrsmenge von 118 ml eine zweifache Überschreitung des TDI für Perchlorat.

Das BfR kommt deshalb zu der Schlussfolgerung, dass „unter Berücksichtigung der normalen Bedingungen der Verwendung des Produkts durch den Verbraucher von einer signifikanten chronischen Überschreitung sowohl der für Chlorat als auch für Perchlorat abgeleiteten ADI bzw. TDI-Werte auszugehen ist. Die gesundheitsbezogenen ADI- bzw. TDI-Werte geben die tolerierbare Aufnahmemenge für die jeweiligen Substanzen an, die ein Mensch lebenslang täglich oral aufnehmen kann, ohne dass unerwünschte Wirkungen zu erwarten sind. Eine dauerhafte Überschreitung dieser Werte wäre aus toxikologischer Sicht nicht tolerierbar.“

 

Literatur

  1. [1] BfR-Stellungnahme  Nr. 028/2014 „Vorschläge des BfR zur gesundheitlichen Bewertung von Chloratrückständen in Lebensmitteln“ vom 12.05.2014.
  2. [2] Empfehlung des BfR zur gesundheitlichen Bewertung von Perchlorat-Rück­ständen in Lebensmitteln, Stellungnahme Nr. 015/2013 des BfR vom 06. Juni 2013
  3. [3] Gesundheitliche Bewertung eines Nahrungsergänzungsmittels durch das BfR vom 30.4.2015, Nr. 8325729
    [4] Risks for public health related to the presence of chlorate in food, EFSA Panel on Contaminants in the Food Chain (CONTAM), EFSA Journal 2015;13(6):4153

 

Artikel erstmals erschienen am 19.02.2015